Interview von UNIDIGITAL mit Dr. Raphael Zender von der Universität Potsdam zum Arbeitskreis VR/AR-Learning

Virtual und Augmented Reality (AR/VR) kommen immer häufiger in der digitalen Hochschullehre zum Einsatz. Unser Gesprächspartner Dr. Ing. Raphael Zender von der Universität Potsdam gibt uns einen Einblick in diese faszinierende Bildungstechnologie.

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Hallo Raphael, ich freue mich, dass du für ein Interview mit UNIDIGITAL  bereitstehst! Bitte stelle den von dir geführten Arbeitskreis Virtual & Augmented Reality (VR(AR) der Gesellschaft für Informatik (GI) an der Universität Potsdam kurz vor.

Hallo Matthias, sehr gerne. Danke für die Anfrage. Der Arbeitskreis VR/AR-Learning ist ein Arbeitskreis der Gesellschaft für Informatik (GI). Innerhalb der Struktur der GI ist er zwei Fachgruppen zugeordnet, der Fachgruppe “Bildungstechnologien (BiT)” und der Fachgruppe “Virtuelle Realität und Augmented Reality (VR&AR)“.

Der Arbeitskreis VR/AR-Learning befasst sich mit aktuellen Entwicklungen, Herausforderungen und Trends zu Lehr- und Lernszenarien mit Technologien der Virtual und Augmented Reality. Er hat dabei drei Ziele.

Der Arbeitskreis hat inzwischen ca. 180 Akteure aus Informatik, Psychologie, Pädagogik sowie weiteren Fachdisziplinen. 

Zum Ersten wollen wir die pädagogisch-psychologischen und informationstechnischen Fragestellungen, Methoden und Ergebnisse des Forschungsbereichs systematisieren und validieren. Wir haben einfach gemerkt, dass eine Vielzahl von VR/AR-Lernanwendungen enthusiastisch entwickelt werden und dann nicht die angestrebten Lerneffekte haben, beispielsweise weil das didaktische Konzept nicht durchdacht ist. Hier wollen wir bei der ganzheitlichen und zwangsläufig interdisziplinären Konzeption von wirksamen VR/AR-Lernanwendungen durch wissenschaftliche Erkenntnisse helfen.

Zum Zweiten möchten wir eine aktive Community aufbauen, um den Erfahrungsaustausch zwischen den relevanten Fachdisziplinen und einzelnen Akteuren vorantreiben. Wir haben einfach zu oft in der Vergangenheit den Fall gehabt, dass Forscher*innen und Praktiker*innen  an der gleichen Fragestellung arbeiten und dieselben Herausforderungen lösen müssen und dies unabhängig von einander tun, obwohl der Austausch zwischen diesen Gruppen für beide ein Gewinn gewesen wäre. Dies wird noch erschwert, wenn man aus unterschiedlichen Fachdisziplinen stammt. Gerade bei E-Learning-Technologien ist dies beinahe die Regel, bis man auf irgendeiner Tagung oder Messe überrascht auf die anderen stößt. Dem wollen wir entgegenwirken, indem die Akteure sich frühzeitig über uns vernetzen können und gemeinsam an ihren Themen arbeiten und sich ergänzen.

Das dritte Ziel betrifft die Organisation von Aktivitäten, die den Wissensgewinn, die Sichtbarkeit und Kooperationen fördern. Hier geht es vor allem darum, die Community zu unterstützen und neue Akteure für das Thema VR/AR-Learning zu begeistern und erste Schritte zu unterstützen.

Der Arbeitskreis hat inzwischen ca. 180 Akteure aus Informatik, Psychologie, Pädagogik sowie weiteren Fachdisziplinen. Es sind sowohl Forscher*innen als auch Anwender*innen aus Schule, Hochschule und beruflicher Bildung vertreten. Geführt wird der Arbeitskreis übrigens nicht nur von mir. Ich bin einer von vier Sprecher*innen.

Wie ist es zur Gründung der Initiative gekommen und welche Rolle spielte die Gesellschaft für Informatik (GI) dabei?

Die Gründung erfolgte auf einer Tagung der Fachgruppe Bildungstechnologien, der DeLFI 2017 in Chemnitz. Hier wurden unabhängig von einander zwei Workshops eingereicht, einer zum Thema AR als Bildungstechnologie durch die Bauhaus-Universität Weimar und einer zu VR als Bildungstechnologie durch mich von der Universität Potsdam. Die Organisator*innen der DeLFI haben uns geraten, beide Workshops gemeinsam durchzuführen. Das haben wir unter dem Titel “VR/AR-Learning” getan. Der Workshop war ein Riesenerfolg. Wir mussten sogar von einem Seminarraum in einen Hörsaal wechseln, weil sonst nicht alle Interessenten in den Raum Platz gefunden hätten. Diesen Erfolg haben wir zum Anlass genommen, der Fachgruppe Bildungstechnologien (damals noch Fachgruppe “E-Learning”) die Gründung eines Arbeitskreises VR/AR-Learning vorzuschlagen, da offenbar ein großes Interesse ein diesem Thema vorliegt. Dieser Vorschlag wurde mit großer Mehrheit in der Mitgliederversammlung angenommen. Im Nachgang haben wir diesen Arbeitskreis zusätzlich der Fachgruppe VR&AR zugeordnet, um hier auch die technische Seite fundiert vertreten zu können.

Den DELFI-Workshop bieten wir übrigens jährlich immer noch im Rahmen der DELFI an. Eine Ausnahme ist dieses Jahr, da die ganze DELFI das Thema “Educational Realities” hat und sich somit VR/AR in der Haupttagung wiederfinden. Ein Erfolg, den ich auch dem Wirken des Arbeitskreises zuschreibe.

Die Gesellschaft für Informatik ist für den Arbeitskreis von zentraler Bedeutung, da wir ohne sie nicht die Möglichkeit hätten, mit unseren Aktivitäten so sichtbar zu sein wie wir es jetzt sind. Durch sie können wir Veranstaltungen kostengünstig durchführen, breit bewerben, sie fördert Publikationen und sie bietet uns durch ihre Mitglieder ein großes Spektrum engagierter Ansprechpartner*innen für konkrete wissenschaftliche und technische Herausforderungen.

Einige von uns verwechseln die Technologien VR und AR. Kannst du uns den Unterschied von virtueller (VR) und erweiterter Realität (AR) erklären?

Die Unterscheidung erfolgt oft anhand technischer Merkmale. Während VR die Nutzer*innen komplett in die virtuelle Welt versetzen will, will AR die physisch reale Welt “nur” mit digitalen Artefakten anreichern, in der Regel visuell. Typisch für VR sind daher undurchlässige Brillen, sogenannte VR-HMDs (Virtual Reality Head Mounted Displays). Typisch für AR sind zwei Geräteklassen. Einerseits Smartphones und Tablets mit AR-Apps. Diese nutzen die eingebauten Kameras, um die physisch-reale Welt anzuzeigen und virtuelle Artefakte zu ergänzen. Andererseits werden zunehmend ebenfalls HMDs genutzt, die z.B. halbtransparente Displays nutzen, durch die Nutzer die physisch-reale Welt sehen können, ihnen aber zeitgleich virtuelle Inhalte dazu angezeigt werden. Ich erwarte, dass beide Technologien zusammenwachsen. HMDs werden in den nächsten Jahren zunehmend sowohl VR- als auch AR-Anwendungen unterstützen.

Aus der Bildungsperspektive sind die Unterschiede jedoch deutlich gravierender. Zentral ist hier, ob der Fokus mit VR auf einer komplett computergenerierten Welt liegt und die Lernanwendung den Nutzer in vollständig künstliche Umgebungen mitnimmt. In diesen dann können beliebige Situationen zu Lernzwecken geschaffen werden. Alternativ liegt der Fokus mit AR auf der realen Alltagswelt, in der hier aber zusätzliche unterstützende Informationen, z.B. als Lernhilfen angezeigt werden.

Daher ist es mir im Kontext von VR/AR-Lernanwendungen so wichtig, zwischen VR und AR zu unterscheiden. Die Lernszenarien und didaktischen Möglichkeiten sich aus meiner Sicht grundsätzlich verschieden. Technisch verschwimmen die Unterschiede tatsächlich zunehmend, weshalb sich auch der Begriff “Mixed Reality” inzwischen großer Beliebtheit erfreut. Für das Lernen und Lehren halte ich diesen und ähnliche Begriffe aber für irreführend. Sie vermitteln eine Ähnlichkeit die didaktisch nicht nur unzutreffend ist, sondern sogar spezifische Eigenheiten verschleiert die didaktisch eine fundamentale Rolle spielen.

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Virtual & Augmented Reality kommen immer häufiger im Hochschulwesen zum Einsatz. Welche Projekte konnte der Arbeitskreis bislang umsetzen und was habt Ihr noch für die Zukunft vor?

Der Arbeitskreis führt keine VR/AR-Entwicklungsprojekte durch. Seine Akteure tun dies aber in einem beeindruckenden Umfang. Eine Auswahl der Projekte der Arbeitskreis-Akteure findet sich auf unserer Webseite.

Wir haben aber eine Vielzahl von Vernetzungs- und Professionalisierungsprojekten durchgeführt. Dazu gehört beispielsweise der jährliche AVRiL-Wettbewerb in dem wir gelungene VR/AR-Lernszenarien gemeinsam mit dem Stifterverband auszeichnen. Auch unsere Didaktik-Webinare empfand ich als sehr wichtig. Hier stellten ausgewiesene Expert*innen der Medienpädagogik und verwandter Fachdisziplinen konkrete didaktische Modelle vor, die eine hohe Relevanz für VR/AR-Learning hatten. Auch unsere Veranstaltungen wie der Praxisworkshop v.a. für Laien und unsere monatliche, öffentliche Sprechstunde sind wichtige Projekte des Arbeitskreises. 

Andererseits muss der Breitbandausbau massiv in der Fläche vorangebracht werden, da sich das Lernen (auch mit VR/AR) zunehmend räumlich von der Hochschule in die privaten Haushalte der Studierenden verlagert.

Was wünscht du dir seitens der Politik um den VR/AR-Bereich an deutschen Hochschulen noch weiter auszubauen und wie siehst du die heimischen Universitäten und Fachhochschulen im Vergleich zu internationalen Einrichtungen wie etwa aus den USA, Asien oder Europa?

Zunächst zur Politik-Frage: Hier wünsche ich mir nicht mehr als andere digitale Technologien an Hochschulen benötigen. Einerseits müssen Fördermittel bereitgestellt werden, um Lehrkräfte und Lernende zu schulen und technologische Investitionen zu ermöglichen. Andererseits muss der Breitbandausbau massiv in der Fläche vorangebracht werden, da sich das Lernen (auch mit VR/AR) zunehmend räumlich von der Hochschule in die privaten Haushalte der Studierenden verlagert. Durch die Coronakrise wird uns das umso deutlicher.

Ich glaube aber auch, dass der Ausbau des VR/AR-Bereichs an Hochschulen nicht zentral eine politische Frage ist. Ich sehe hier eher Bedarf nach gesellschaftlichen Debatten, ausgereifteren Technologien und einer Professionalisierung der Gestaltung lernwirksamer Systeme.

Zur Frage des internationalen Vergleichs: Technologisch sehe ich hier keine großen Unterschiede. Wir haben in der vernetzten Welt als Hochschulen nahezu dieselben Technologien zur Verfügung wie z.B. die namhaften Universitäten in den USA. Allerdings beobachte ich in der deutschen Hochschullandschaft deutlich mehr Zurückhaltung bei der Neugierde auf neue Technologien. Dies kann einerseits negativ sein, da man neue Technologien erleben muss, um ihr Potential zu begreifen. Dies gilt insbesondere für VR/AR. Andererseits finde ich eine zurückhaltende Akzeptanz aber gerade im Bildungsbereich auch sinnvoll. Hier sollte man sich zunächst dem didaktischen Nutzen und den Risiken bewusst werden, bevor man neue Technologien auf Lernende “loslässt”. Daher begrüße ich die an Deutschlands Hochschulen verbreitete Vorsicht eher als dass ich sie ablehne.

Serious Games, also Spiele mit Lerncharakter, sind ebenfalls wie VR/AR innovative E-Learning-Techniken, die sich stetiger Beliebtheit erfreuen. Ist es deiner Meinung nach sinnvoll diese beiden Technologien, also die Gamification über VR und AR zu kombinieren?

Kurze Antwort: Ja, wenn das zur Lösung des vorliegenden Bildungsproblems beiträgt.

Die Frage kann also nicht pauschal beantwortet werden. Natürlich schwingt mit VR/AR immer ein spielerischer Akzent mit. Die Technologien sind im Gaming-Bereich schlicht verbreiteter als im Bildungsbereich und die großen VR/AR-Anbieter fokussieren auch am ehesten den Entertainment-Sektor. Ob Gamification aber zielgerichtet mit VR/AR kombiniert werden sollte, kann nur für den Einzelfall, d.h. für ein konkretes Bildungsproblem beantwortet werden.

Ich glaube, dass neben VR und AR vor allem Künstliche Intelligenz (KI) für eine Vielzahl von Bildungsproblemen zur Lösung beitragen kann.

Zum Schluss würde ich dich gerne noch fragen, welche Technologie du abseits von VR/AR mit Blick auf den Einsatz in der digitalen Lehre favorisierst?

Ich favorisiere keine konkrete Technologie. Ich denke, dass vor der Realisierung jedes Lernszenarios eine didaktische, ergebnisoffene Analyse des vorliegenden Bildungsproblems erfolgen muss. Im Ergebnis kann eine digitale Technologie einen Lösungsansatz bieten. Welche das ist, sollte ebenfalls ein Ergebnis der Analyse der Bildungsproblems sein. Ich glaube allerdings, dass neben VR und AR vor allem Künstliche Intelligenz (KI) für eine Vielzahl von Bildungsproblemen zur Lösung beitragen kann. Vor allem da KI das Potential hat, Ressourcen (v.a. Zeit und Personal) einzusparen und – in wohlüberlegten Teilen – menschliche Lernpartner ablösen kann. Ich glaube aber auch, dass KI so wie VR und AR noch Jahrzehnte braucht, um wirklich in einer Vielzahl von Bildungsalltagen zum Einsatz zu kommen. Dies liegt vor allem an der technologischen Unreife und dem fehlenden, gesellschaftlichen Verständnis der Technologien.

Dieses Interview wurde von Matthias Kindt (unidigital.news) geführt. Ich bedanke mich herzlich bei Dr. Ing. Raphael Zander und wünsche dem Arbeitskreis VR/AR viel Erfolg bei hoffentlich noch vielen weiteren Projekten.

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Dr. Ing.Raphael Zender

Raphael Zender leitet die VR/AR-bezogenen Forschungsprojekte am Lehrstuhl für Komplexe Multimediale Anwendungsarchitekturen der Universität Potsdam, ist Sprecher des Arbeitskreises VR/AR-Learning der Gesellschaft für Informatik (GI) sowie Mitglied des Leitungsgremiums der GI-Fachgruppe Bildungstechnologien.

 

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